Peggy Liebscher

Bürgerliche Identität und Politikverdrossenheit

 

Verfassung, Bundesstaatlichkeit, Partizipation des Bürgers an seinen eigenen Angelegenheiten - das gibt es in Mitteldeutschland erst seit der Wiedervereinigung wieder. Am 3. Oktober 1990 um 0.00 Uhr, in der Sekunde der deutschen Einheit, entstand Sachsen, eines der ältesten Deutschen Länder, als ein sogenanntes neues Bundesland wieder. Die nachfolgende Betrachtungen sind der Frage gewidmet, warum hier nach der Begeisterung und dem Einsatz vieler Menschen für die Wiedervereinigung alsbald eine Unzufriedenheit mit dem Errungenen grassiert und jene, denen lange die politische Mitwirkung entzogen war, sich jetzt in Politikverdrossenheit üben. Es geht damit um ein Thema, das des Jubilars Lebenswerk - die Einheit in Freiheit - eng berührt. Was ist zu tun, um das Vertrauen in die deutsche Demokratie und ihre Fähigkeit zu stärken, die entscheidenden Probleme zu lösen? Ich widme diese Betrachtungen über bürgerliche Identität und Politikverdrossenheit dem Kanzler der Einheit, Dr. Helmut Kohl MdB, zum siebzigsten Geburtstag.

Sätze wie "Es ist egal, welche Partei man wählt, ändern wird sich doch nichts" oder "In der Politik geschieht selten etwas, was dem kleinen Mann nützt" finden sich in einer Vielzahl von Presseerklärungen als auch in alltäglichen Gesprächen wieder. Formulierungen wie "drastische Zunahme der Nichtwähler", "Einzug von Rechtsparteien in die Parlamente", "tiefes Mißtrauen gegen die Politiker" sehnen wortwörtlich den Zustand der Politikverdrossenheit herbei. Was wirklich dahinter steht, ob tatsächlich Symptome in Erscheinung treten, die beunruhigend auf die Bevölkerung wirken, und welche Ursachen wirken, soll gefragt werden.

Wo ist die Ursache zu finden, warum die anfängliche vorbehaltlose Zustimmung zur Bundesrepublik Deutschland im Laufe der Zeit einer zunehmenden Skepsis gewichen ist? Die rückläufige Akzeptanz ist überwiegend auf den Umstand zurückzuführen, daß die Erwartungen, die in den letzten Tagen, Wochen und Monate der DDR-Geschichte viele Ostdeutsche an ein Leben im wiedervereinten Deutschland stellten, nicht immer erfüllt wurden. Die Bürger wollten mehr Demokratie, mehr Freiheit, mehr Pluralismus und ein Leben ohne größere Existenzängste. Verpflichtungen gegenüber dem Staat, dem Gemeinwesen waren nicht Inhalt der Forderungen und Wünsche. Alles sollte im großen und ganzen bleiben, v. a. die niedrigen Lebenserhaltungskosten wie Miete, Strom und Lebensmittel, die jedoch einer gesteigerten Lohnforderung gegenüber standen. Nur so konnte schließlich der Wunsch nach einer Fernreise, nach einem Auto u. a. erfüllt werden. Dieser konträren Gegenüberstellung von Forderungen nach Beibehaltung und Entwicklung folgt nun, nach Einsicht der Unmöglichkeit, die Phase des Zurückziehens.

Gleichheit und Gerechtigkeit stellen hier zwei signifikante Schlüsselwörter dar. Gesellschaftliche Gerechtigkeit hängt in hohem Grade vom subjektiven Empfinden der Bürger ab. Fühlen sie sich im großen und ganzen gerecht behandelt, so herrscht sozialer Friede. Anderenfalls gibt es Unruhen, die sich schnell verhärten können und auf jeden Fall länger anhalten als jener Zustand des sozialen Friedens. In der Phase des Wachstums, wo jeder grundsätzlich bestrebt ist, mehr zu bekommen und somit wohlhabender zu werden, spielt die Frage der Gleichheit eine eher untergeordnete Rolle. Aber in der Zeit, wo das Wachstum stagniert, ist der Mensch sensibilisiert für jeden Akt scheinbarer Ungerechtigkeit. Staatliche Elemente in Richtung der sozialen Gerechtigkeit wie z. B. die gesetzliche Familienversicherung werden nicht wahrgenommen. Der Versicherungsschutz erstreckt sich hierbei auf alle nichterwerbstätigen Familienangehörige, ohne daß höhere Beiträge fällig werden (Solidarprinzip). Ein anderes Beispiel stellt der freie Zugang zur Bildung dar. Bildung als ein meritorisches Gut, welches das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen zu Gunsten des sozialen Ausgleichs außer kraft setzt. Der Staat unterstellt, daß der Einzelne die zeitnahen Kosten überschätzt und den zeitfernen Nutzen unterschätzt. Durch die Ausgestaltung als meritorisches Gut wird auf der einen Seite Schulpflicht entfaltet und auf der anderen Seite durch den Abbau von Bildungsschranken eine soziale Selektion bereits in frühen Jahren verhindert.

Trotz des eigentlichen Wohlstandes der gesamten Bundesrepublik, entlädt sich die gelebte Unzufriedenheit oft in scharfen Diskussionen. Auf der einen Seite fließen finanzielle Transfers von West nach Ost, die wahrscheinlich schon die Billionengrenze überschritten haben. Die ostdeutsche Wirtschaft hängt jedoch noch weit hinter den Erwartungen zurück. Westdeutsche klagen deshalb, weiter zahlen zu müssen. Auf der anderen Seite verweisen die Ostdeutschen darauf, sie seien immer noch im Rahmen des wiedervereinten Deutschlands benachteiligt. Deutlich wird das an der derzeitigen Diskussion um die Lohnangleichung im öffentlichen Dienst. Weitere bekannte Streitpunkte sind die Ostrenten der Frauen im Vergleich derer im Westen sowie die Höhe der Arbeitslosenquoten.

Fazit muß demnach sein: Die Gleichheitserwartungen müssen spürbar gebremst werden. Es ist nicht möglich, einen Staat, der die Möglichkeit hatte, sich über 50 Jahre zu entwickeln, mit einem diktatorischen Staat zu vergleichen, der diese Entfaltungsmöglichkeit bis vor zehn Jahren verweigerte. Deshalb wird es Unterschiede geben müssen, wobei mit vereinten Kräften zu versuchen ist, die Ungleichheit nicht allzu groß werden zu lassen. Zur Dramatisierung besteht jedoch kein Anlaß. Denn das Zusammenwachsen von Gesellschaften, die sich über lange Jahrzehnte in jeweils eigenen Staaten entwickelt haben, braucht seine Zeit. Nicht nur das regionale Gefälle, sondern auch die Unterschiede der einzelnen gesellschaftlichen Schichten innerhalb einer Nation sind zu betrachten.

Es muß ein deutlicher Appell an die Bevölkerung herangetragen werden, nämlich hinsichtlich der Eigenverantwortung, die wieder neu zu entdecken ist. Wir wissen, daß die Eigenverantwortung auf der Autonomie des Bürgers basiert, der Herr seiner Entscheidungen ist: Der Bürger als eigenverantwortliches Individuum, dessen Handeln nur allein von ihm zu verantworten ist. Auf der anderen Seite steht der Staat, der wiederum nur funktioniert, wenn die Gesellschaft - zumindest der größere Teil davon - aus eigenverantwortlichen Individuen besteht. Somit ist zu fragen: wie kann Eigenverantwortung wahrgenommen werden? Was steht ihr unter Umständen im Wege?

Die Übernahme von Eigeninitiative und Verantwortung in einer sich immer stärker und schneller verändernden Welt setzt flexible Menschen voraus, die sich dem Wandel anpassen, obwohl sie das Ergebnis - ob sie persönlich davon profitieren oder darunter eher leiden - nicht kennen. Hieß es noch vor ein paar Jahren, den erlernten Beruf dann auch für das gesamte Leben ausüben, ist heute doch der mobile Arbeitsplatz die Regel. Es wird nicht mehr die eine Arbeit und den ewigen Arbeitsplatz, sondern für viele immer mal wieder Zeiten der Umorientierung geben. Alle werden diesen Schritt der schnellen Veränderungen nicht mithalten können. Besonders in der DDR wurde die Wertigkeit der Bürger über die Arbeit definiert. Deshalb muß es zukünftig ein Umdenken geben. Denn eine soziale Diskriminierung belastet den gesellschaftlichen Zusammenhalt so stark, daß aus diesem Zustand ein Potential erwachsen kann, der die Demokratie bedroht.

Der Weg muß daher in Richtung eines gesteigerten Bürgerbewußtseins gehen. Es darf nicht nur um die Verteidigung sozialer Interessen und die Einklagbarkeit von Rechten gehen, sondern vielmehr um das Einbringen in das Gemeinwesen - zum Beispiel durch die Übernahme öffentlicher Verantwortung, nicht nur im Sinne eines Amtes, sondern im Sinne eines kontinuierlichen Einbringens. Gemeinwesen bedeutet nicht Abzockerei gegenüber dem Bürger, sondern spricht eine gestalterische Ebene an.

Es ist durchaus schwierig, in einer Gesellschaft, die immer stärker zur Individualisierung strebt, den Gemeinsinn zu betonen. Die Theorie der "unsichtbaren Hand des Wettbewerbs" des Moralphilosophen Adam Smith (1723-1790) läßt sich sehr leicht auch auf diese Ebene in einer Analogie anwenden. Ziel ist es demnach, Anreize zu schaffen, die den Einzelnen aus Eigennutz das tun lassen, was dem Gemeinwesen förderlich ist. Der Anreiz kann u. U. in der Verbesserung des Gemeinwesens liegen. Das muß nicht nur die Nation oder der Freistaat sein, sondern auch die Nachbarschaft, die Kommune oder die Region. Entscheidend dabei ist, daß ein öffentlicher Sinn dahinter steht, daß die Gesellschaft mehr ist als eine Notgemeinschaft. Ein Beispiel dafür wäre die Spendenaktion für die Glocken der gemeindlichen Pfarrkirche. Die Gemeindebewohner organisieren ein Fest mit Kuchenbasar, Hüpfburg und dergleichen. Die Erlöse des Festes fließen in den Erhalt der Kirche. Solche Aktionen schweißen im sprichwörtlichen Sinne zusammen und machen ein Gemeinwesen lebendig.

Eine weitere Möglichkeit des sinnvollen Einbringens in das Gemeinwesen liegt in der politischen Betätigung. Der Anreiz besteht hier im Mitgestalten und im Tragen von Verantwortung. Eines ist an dieser Stelle deutlich zu betonen, nämlich das Wissen darüber, daß die Bürger ihre politischen Vertreter zwar legitimieren, gewisse Verantwortung und Entscheidungen auszuüben, diese Bereiche aber nicht aus den Händen geben. Der Politiker befindet sich demzufolge in einer sehr verantwortungsvollen Stellung, wo es gilt, selbst eine universale Sprache gegenüber denen zu finden, die die Bürgerrechte mit Füßen treten. Sie müssen den Erwartungshorizont der Wähler erfüllen, ohne zum Galan derer zu werden, die stets auf Geschenke erpicht sind und weniger von zukunftsfähigen Konzepten etwa zum Thema Staatsverschuldung, Renten oder Gesundheitswesen wissen wollen. Diese Position auszuüben ist unter keinen Umständen leicht. Zwischen den unterschiedlichsten Meinungen ist letztlich ein möglicher Weg aufzuzeigen, der in verständlicher Art und Weise an die Bürger weitergegeben werden muß.

Ein letzter Punkt soll der Appell sein, Werte wieder in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft rücken zu lassen. Disziplin, Ordnung, Moral, die Wahrnehmung von Pflichten und das Wissen darüber sowie das Aufzeigen von Grenzen sind in der Vergangenheit immer mehr auf der Strecke geblieben. Wie sollen die Kinder denn ihre Grenzen kennen, wenn sie alles tun können und jeden Wunsch erfüllt bekommen?! Die Erfahrung der letzten Jahre hat mit Sicherheit eines verdeutlicht: Der Ruf nach einer stärkeren Liberalisierung in einer Vielzahl von Bereichen hat zu einem allgemeinen Werteverfall in der Gesellschaft geführt. Fazit daraus: Liberalisierung ist nur aus der Stärke, aber nicht aus der Schwäche heraus durchführbar.

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Grundlage für eine Identität mit der Verfassung die Wahrnehmung von Verantwortung ist. Voraussetzung dafür ist die dauerhafte, nie nachlassende Bereitschaft der Bürger, sich mit dem eigenen Staat zu identifizieren.
 
 
 
 

Peggy Liebscher war Personalchefin einer Polizeidirektion und studiert derzeit Rechtswissenschaften in Leipzig. Sie ist Mitglied der CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat, war Kreisvorsitzende der Jungen Union Leipzig, Mitglied des Landesvorstandes der CDU Sachsen und stellvertretende Landesvorsitzende der Jungen Union Sachsen & Niederschlesien