Stefan Billig

Wiedervereinigung in Uniform


Bis zum Epochenumbruch 1989/1990 standen sich in Deutschland zwei deutsche Armeen feindlich gegenüber. Wäre es möglich, die Wiedervereinigung auch auf dem Gebiete der deutschen Streitkräfte zu vollziehen? Diese Entscheidung mußte in den ersten Monaten des Jahres 1990 fallen.

Es herrschte damals die Auffassung vor, daß das Potential der NVA der DDR zu groß und ideologisch zu festgefügt wäre, um in das wiedervereinigte Deutschland einbezogen zu werden. Es war eigentlich nicht gewollt, die NVA zu übernehmen - vielmehr war daran gedacht, sie aufzulösen.

Damals entschied Bundeskanzler Helmut Kohl, daß die Bundeswehr des wiedervereinigten Deutschland eine Armee der Einheit sein müsse. Die Integration der NVA der DDR in die Bundeswehr der Bundesrepublik Deutschland wurde zum Prüfstein, ob und wie die staatliche Einheit der Deutschen nach Jahrzehnten der Spaltung und der Existenz in zwei gegensätzlichen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen erneuert werden kann.

Heute sehen wir, daß Helmut Kohl auch mit dieser Entscheidung recht gehabt hat. Die Überführung der NVA in die Bundeswehr des vereinigten Deutschland ist im Prinzip gelungen - wenn man von einer einzigen Frage von erheblicher Wichtigkeit, der bis heute unterschiedlichen Besoldung der Soldaten aus den "alten" und den "neuen" Bundesländern, absieht.

Ich selbst habe diesen Prozeß der Übernahme und des Zusammenwachsens im Sanitätsdienst erlebt. Wer zur Wiedervereinigung nicht freiwillig ausschied, wurde weiterverwendet, konnte sich zunächst für zwei Jahre als Soldat auf Zeit bewerben und wurde, wenn er geeignet war und gebraucht wurde, schließlich Berufssoldat. Die fachliche Zusammenarbeit funktionierte schnell sehr gut. Besonders durch gemeinsame Einsätze bei Bündnisübungen oder im Auftrage der NATO oder UNO haben die Soldaten unterschiedlicher Herkunft menschlich und fachlich zusammengefunden.

Dies war ein Lernprozeß - auf beiden Seiten. Auch die Offiziere der Bundeswehr West mußten viele irrige Vorstellungen über die DDR und die NVA überwinden. Nicht bei jedem war von Anfang an der Wille zur Integration der mitteldeutschen Kameraden ausgeprägt.

Ausschlaggebend dafür, ob Helmut Kohls Entscheidung für eine Armee der Einheit richtig war, sind aber die Bundeswehrangehörigen aus der ehemaligen NVA. Gerade diejenigen, die die meiste Zeit ihre Lebens in der NVA gedient hatten und gegenüber der DDR oft Dankbarkeit dafür empfanden, was aus ihnen geworden war, hatten mit der Wiedervereinigung schon ideologische Probleme. Diese älteren NVA-Angehörigen sind meist nach der Wiedervereinigung aus dem Dienst ausgeschieden.

Die jüngeren NVA-Angehörigen - sofern nicht ideologisch statt fachlich ausgerichtet - hatten in der Regel keine Probleme mit dem Wechsel zur Bundeswehr. Es war bei vielen ein pragmatisches Denken: Die Bundeswehr ist ein ordentliches Dienstverhältnis. Was hier verlangt wird - der Eid, das Bekenntnis zur Ordnung des Grundgesetzes - kann man voll unterschreiben. So, wie sich die Bundeswehr des freiheitlich-demokratischen Deutschland bereits in den ersten Jahren präsentierte, hat sie diese Offiziere überzeugt. Wer anders empfand - auch die gab es -, schied aus der Bundeswehr aus.

Daß es möglich war, das in dem Denken der NVA allgegenwärtige ideologische Korsett der "Klassenfeindschaft" so relativ mühelos abzuwerfen, hat auf beiden Seiten überrascht. In der Praxis der NVA war diese Art der Befreiung nicht angelegt gewesen. Aber gerade im totalitären Anspruch der kommunistischen Partei- und Staatsideologie lag der Grund dafür, daß sie so leicht zu überwinden war: Die Ideologie verlor ihre Wirksamkeit, weil sie als selbstverständlich vorgegeben und allen ständig abverlangt wurde. Es gab keine freiwillige Entscheidung, die zur Bindung geführt hätte. Der ideologische Hintergrund war bei den meisten Berufssoldaten der NVA deshalb sehr, sehr relativ. Die rote Ideologie war oktroyiert gewesen und wurde abgeworfen.

Das wiedervereinigte Deutschland verlangt keine bestimmte Ideologie und schreibt keine politische Betätigung vor. Unsere Demokratie lebt aber von der freiwilligen politischen Entscheidung, die zur Bindung führt. Hier ist das Feld, wo die Integration der ehemaligen NVA-Soldaten in die Bundeswehr noch nicht abgeschlossen ist. Die allermeisten der Übernommenen wollen sich im demokratischen Staat nicht mehr politisch engagieren - nachdem sie es früher nur getan haben, weil fast jeder Offizier in der SED sein mußte. Ihr Engagement findet heute in der Verbandsarbeit statt. Soldaten mit NVA-Vergangenheit sind kaum - wie der Verfasser - im politischen Raum anzutreffen.

Damit liegt nicht aber nur ein Potential brach. Es wäre besser, wenn die mitteldeutschen Bundeswehrangehörigen nicht überwiegend abseits von der Politik stünden, sondern wie ihre westlichen Kameraden aus freiem Willen in die demokratische Politik des in Freiheit wiedervereinigten Vaterlandes eingebunden wären. Das Gelingen von Helmut Kohls geschichtlicher Entscheidung für eine Armee der Einheit bedarf hier noch der Vollendung.
 
 
 
 

Stefan Billig ist Facharzt für Chirurgie und Urologie mit dem Dienstgrad Oberstarzt im Bundeswehrkrankenhaus Leipzig. Er war Vorsitzender der CDU-Fraktion im Kreistag des Landkreises Leipzig und ist Vorsitzender der CDU-Fraktion im Leipziger Stadtrat.