Alexander Achminow

Fuchsjagd oder Saumagen

Gedanken zum Konservatismus

  

„Politik ist die Fähigkeit, in jedem wechselnden Moment der Situation das am wenigsten Schädliche oder das Zweckmäßigste zu wählen. Es ist mir das nicht immer, aber doch in den meisten Fällen gelungen. Man hat von mir gesagt, ich hätte außerordentlich viel Glück gehabt in meiner Politik. Das ist gewiß richtig. Aber ich kann dem Deutschen Reiche nur wünschen, daß es immer Kanzler und Minister haben möge, die Glück haben. Es hat das eben nicht jeder.“[1]

 Ein großer Konservativer wird siebzig Jahre alt: Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler a. D., befindet sich, wie er sagt, „auf dem Wege zum Altenteil“.

 Ein großer Konservativer? Was für eine überraschende Bezeichnung, die man jetzt überall hört – für den Mann, der fast im Alleingang aus der CDU eine moderne Volkspartei, ja die erste moderne Partei der Bundesrepublik gemacht hat. Für den Mann, der zum Amtsantritt 1982 eine „konservative Wende“ einleitete - die Deutschland letztlich umkrempelte wie nichts seit dem Kriege und als kraftstrotzende, hochmoderne Gesellschaft und Volkswirtschaft hinterließ. Für den Mann auch, der maßgeblich eine bis dahin kaum denkbare westeuropäische Einigung vorantrieb und unumkehrbar machte. Für den Mann schließlich, der beim Zusammenbruch des Sozialismus das Undenkbare nicht nur dachte, sondern mit scheinbarer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit in die Tat umsetzte und alle Staatsmänner seiner Zeit zu Kommentatoren, ja Zuschauern werden ließ: die Einheit Deutschlands und die Erweiterung der Einigung Europas auf dessen Mitte.

 Nichts von dem, was er vorfand, ist noch so, wie er es vorfand – manches hat kaum noch Ähnlichkeit damit. Und das soll ein Konservativer sein?

 Dr. Helmut Kohl wird nicht böse sein, wenn wir seinen Geburtstag zum Anlaß nehmen, um einige Gedanken über den Begriff „Konservatismus“ Revue passieren zu lassen. Ich will ihm zu seinem Geburtstag einige Zitate widmen, die konservative Literaten und Philosophen, Politiker und Publizisten über den Konservatismus, konservative Politik und die Konservativen verfaßt haben.

 Freilich bietet eine Festschrift wie diese nicht der Platz für eine umfassende Darstellung der konservativen Theorie und Tradition. Die Zitate sind lückenhaft, teils auch ein wenig ausgesucht nach ihrem Bezug derjenigen Ära unserer Geschichte, die Helmut Kohls Namen tragen wird. Wer die Zitate liest und Helmut Kohl dabei im Gedächtnis behält, wird womöglich staunen, wie genau seine Politik, seine politische Haltung sich oft in dem wiederfindet, was vor hundert oder zweihundert Jahren gedacht und geschrieben wurde. Aber wichtiger für eine Geburtstags-Festschrift ist: auch den Menschen Dr. Helmut Kohl haben, so scheint es, englische Konservative schon vor vielen Jahren gekannt. Denn was dem einen seine Fuchsjagd, ist dem anderen sein Saumagen.

  

1. Über den Menschen

 Beginnen wir mit dem konservativen Bild vom Menschen. Es ist, um es milde auszudrücken, skeptisch:

 „Der Konservative hält sich an den alten Glauben, daß der Mensch, außer durch die Gnade Gottes, nicht perfektioniert werden kann. Mit Ungeduld lesen die Konservativen Menschen wie Götter, sie bevorzugen Die Zeitmaschine. Beides sind phantastische Erzählungen, aber eine ist ein falscher Mythos, die andere näher an der Wahrheit. Die Konservativen haben beobachtet, daß H.G. Wells, der trotz seiner Zeitmaschine ein glühender Perfektionist war, in tiefster Verzweiflung über die Zukunft des Homo Sapiens gestorben ist. Konservative, die nicht, wie die weisesten unter ihnen, Christen sind, würden ihm zustimmen – verstehen aber nicht, warum es einen so intelligenter Mann über siebzig Jahre kostete, bis er diese offensichtliche Tatsache herausfand.“[2]

 Denn der Konservatismus

 „...nimmt die Menschen wie sie sind, Kinder der Natur unter göttlicher Fürsorge, sterbliche Wesen, zu Fehlern neigend, imstande, mit Hilfe von Disziplin zu etwas Anständigem zu werden, aber mehr als gefährdet, ohne Disziplin zu etwas unterhalb des Menschen zu verkommen.“[3]

 Utopien sind folglich mit den Menschen nicht zu verwirklichen. Die konservative Politik strebt gar nicht erst nach dem perfekten Menschen in der perfekten Gesellschaft, denn

 „während der Konservatismus durchaus um den Fortschritt bemüht ist, wird er nie vergessen, daß ein Großteil der menschlichen Energie und Anstrengung schon dafür aufgewendet werden muß, daß alles nicht noch schlimmer wird. ... Wenn man einmal den Menschen als das annimmt, was er ist, wenn man einmal Perfektionismus durch Verbesserung ersetzt hat, wenn man einmal gelernt hat, das Königreich Gottes auf die zeitlose Ebene der Civitas Dei zu heben – dann werden die Prinzipien des Konservatismus klar.“[4]

 Es versteht sich, daß das Mißtrauen gegenüber der Unfehlbarkeit des Menschen sich dem Grunde nach auch auf die vom Menschen gemachten Institutionen erstreckt – wenn sie nicht, siehe unten, über Jahrhunderte ihre Erträglichkeit bewiesen haben:

 „Politische Freiheit ist nichts anderes als die Teilung[5] der Macht. Alle Macht tendiert zur Korruption, absolute Macht tendiert dazu, absolut zu korrumpieren. Daraus folgt, daß politische Freiheit in dem Maße unmöglich ist, in dem die Macht in der Hand einiger weniger Menschen konzentriert ist. Es spielt keine Rolle, ob diese Menschen gewählt wurden oder nicht. Gib Menschen Macht – und sie werden sie mißbrauchen. Gib ihnen die absolute Macht, das heißt, fasse in ihren Händen die verschiedenen Formen und Abstufungen von Macht zusammen, und sie werden sie absolut mißbrauchen. Wenn die Macht nicht mißbraucht werden soll, so muß sie so weit wie möglich über die Gesellschaft verstreut werden.“[6]

Nur so, nicht mit abstrakten „Menschenrechten“, läßt sich nach konservativer Philosophie Freiheit sichern:

 „Die Trutzburg der Englischen Freiheit sind nicht die Gesetze (die oft schlecht waren) sondern die Rechtsstaatlichkeit, die stetige Durchsetzung einiger kostbarer Prinzipien, die im härtesten Praxistest über Jahrhunderte hinweg bewiesen haben, daß sie am besten den Bedürfnissen der menschlichen Persönlichkeit dienen. Diese wenigen Prinzipien, und die rein nach dem Nutzen konstruierten Werkzeuge für ihre Durchsetzung – die wichtigsten sind der Schutz vor willkürlicher Verhaftung, das Recht auf einen öffentlichen Prozess vor einem Bürgergericht unter Führung eines unabhängigen Richters – diese Rechte jedes Engländers haben die Reise ins Ausland angetreten. Dort erblühten sie unter der generalisierenden Leidenschaft weniger pragmatischer Völker zu universellen „Menschenrechten“. Das hat die Engländer nie interessiert, diese neue und hochtrabende Mode. Sie nennen sie immer noch die „Rechte des Engländers“ und wissen, wo und wie sie sie in ihrem konkreten Leben durchsetzen können.“[7]

  

2. Über den Staat

 Damit also alles nicht noch schlimmer wird, muß gesichert, ja zum Tabu erklärt werden, was man erreicht hat:

 „Staatsverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ist’s, als bindet man Blüten mit Fäden an. Die erste Mittagssonne versengt sie.“[8]

 Der Vergleich des Staates mit einem lebendigen Organismus kehrt immer wieder und ist eine Konstante im politischen Konservatismus. Die Überlegungen füllen Bände, deshalb hier nur so viel:

 „Der Staat ist die Totalität der menschlichen Angelegenheiten, ihre Verbindung zu einem lebendigen Ganzen. Schneiden wir auch nur den unbedeutendsten Teil des menschlichen Wesens aus diesem Zusammenhang für immer heraus, trennen wir den menschlichen Charakter auch nur an irgend einer Stelle von dem bürgerlichen, so können wir den Staat als Lebenserscheinung oder als Idee, worauf es hier ankommt, nicht mehr empfinden.“[9]

 Und deshalb, an die Adresse der Ideologen, die eine Gesellschaft abschaffen und durch eine bessere ersetzen wollen:

 „Fragt nun, nach dieser Darstellung, noch irgend jemand: Was ist denn der Zweck des Staates? So frage ich ihn wieder: Du betrachtest also den Staat als Mittel? Als ein künstliches Mittel? Du meinst also noch immer, daß es außerhalb des Staates etwas gebe, um dessentwillen er da sei, dem er dienen müsse (...) es könne darauf hinauslaufen, daß der Staat nun überflüssig sei und etwas anderes, Besseres ans Licht kommen könne als er? – er ist aber zu groß, zu lebendig, um sich, den Wünschen der Theoretiker gemäß, einem dieser Zwecke ausschließend und allein hinzugeben.“[10]

 Der Großmeister der konservativen Philosophie, Edmund Burke, hatte dies bereits angesichts der französischen Revolution auf den Punkt gebracht:

 „Um daher das Unheil von Unstetigkeit und Unbeständigkeit, zehntausendmal schlimmer als das von Starrsinn und blindestem Vorurteil, zu vermeiden, haben wir den Staat geheiligt – so daß kein Mensch sich seinen Fehlern oder Entstellungen anders nähern sollte als mit gebotener Vorsicht, damit er nicht im Traume daran denkt, seine Reform mit seiner Abschaffung zu beginnen, damit er sich den Fehlern des Staates nähert wie den Verwundungen seines Vaters, mit andächtiger Ehrfurcht und zitternder Sorge.“[11]

 Und bei Edmund Burke ist die Begründung für die konservative Verehrung der überkommenen Institutionen ebenso einfach wie geradlinig:

 „Wir verehren unsere bürgerliche Institutionen nach den gleichen Maßstäben, nach denen die Natur uns lehrt, individuelle Menschen verehren: nach ihrem Alter und nach dem, wovon sie abstammen.“[12]

 Wir werden gleich noch sehen, wie bei all dieser Verehrung des Überkommenen aus konservativer Sicht Fortschritt überhaupt möglich ist. Es wäre dies gar nicht so schwierig – hätte man es nicht leider mit Konservativen zu tun.

  

3. Über die Konservativen

 „Konservatismus ist weniger eine politische Lehre als eine Geisteshaltung, eine Art zu fühlen, eine Lebensart. ... Snobs[13], Müßiggänger, Millionäre, Handwerker, Oberfeldwebel, Kneipenwirte, Akademiker, Menschen von Genie im Gegensatz zu Talent, jeder, der meint, daß die Poesie, das Geldverdienen, die Liebe und der Sport wichtiger sind als die Politik - im Grunde jeder, der etwas zu verlieren hat, und sei es nur die Möglichkeit zum Nichtstun – das sind die Konservativen. Die Partei tendierte auch dazu, die Partei der Ärmeren zu sein, wohlunterschieden von der ‚Arbeiterklasse‘.“[14]

Gemeint ist hier natürlich die Englische Konservative Partei, die über Jahrhunderte hinweg ihre liebe Not hatte, im Hinblick auf den Organisationsgrad mit den Utopisten und Ideologen aller Couleur mitzuhalten, denn

 „Konservative glauben nicht daran, daß der politische Kampf das wichtigste im Leben sei. Darin unterscheiden sie sich von Kommunisten, Sozialisten, Nazis, Faschisten, Sozialgläubigern und den meisten Mitgliedern der Labour Party. Die Einfacheren unter ihnen bevorzugen die Fuchsjagd, die Weiseren die Religion.“[15]

 Leider liegt dies nicht nur daran, daß die Konservativen eine „Partei“ im Grunde so wenig benötigen wie sie eine „Ideologie“ haben. Fast verzweifelt stellten die englischen Konservativen fest:

 „Ein Konservativer wird behaupten, daß er die Politik der Religion unterordnet. Wenn er darüber nachdenkt, wird er zu dem Schluß gelangen, daß es so ist. Sobald er aber nicht mehr darüber nachdenkt, wird er die Politik jeder einzelnen Vergnügen bereitenden Anstrengung des täglichen Lebens unterordnen. Das macht Konservative so eigenartig anfällig für den Charme von Politikern, die versprechen, sie in Ruhe zu lassen.“[16]

  

4. Über den Fortschritt

 Man kann sich nach diesen Zitaten ungefähr vorstellen, wie die konservativen Politiker an die Gestaltung des Gemeinwesens herangehen:

 „Wenn es nicht nötig ist, zu verändern – dann ist es nötig, nicht zu verändern.“[17] - „Ein Konservativer ist ein Mensch der in der Politik die Beweislast bei dem sieht, der eine Veränderung vorschlägt.“[18]

 Ganz so einfach ist es allerdings nicht immer. Der Konservatismus steht nämlich vor dem Dilemma, Veränderungen immer ermöglichen, aber meistens zumindest vorläufig verhindern zu müssen. Denn weil aus konservativer Sicht der Staat wie ein lebendiger Organismus zu betrachten ist, ist er selbstverständlich fortwährender Veränderung unterworfen – gerade im Gegensatz zu einem ahistorischen, utopischen „Endzustand“, wie ihn etwa Kommunisten für die Zukunft wünschen oder Reaktionäre aus der Vergangenheit wiederbeleben wollen. Edmund Burke stellt deshalb seinen Überlegungen zum Fortschritt seinen wohl bekanntesten Satz voran:

 „Ein Staat, dem es an den Mitteln zu seiner Veränderung fehlt, der entbehrt auch die Mittel zu seiner Erhaltung.“[19]

 Dauernde Veränderung in immerwährender Kontinuität – das ist, verkürzt gesagt, der konservative Fortschrittsbegriff. Und weil die Veränderung von selbst auf sich aufmerksam macht, ist es den Konservativen mehr um die Kontinuität zu tun, denn Konservative

 „glauben nicht, daß jede Generation aufs Neue von vorn beginnen sollte – und die Errungenschaften der letzten Generation ausradieren sollte. Wenn wir den Fortschritt erreichen wollten, indem wir immer alles ausradieren, würden wir nicht weit kommen“[20]

 Edmund Burke verurteilt – unter dem Eindruck der französischen Revolution – weniger die Revolutionäre, vielmehr die Konservativen Frankreichs. Denn sie haben seine oben zitierte Grundregel mißachtet und damit den Umsturz, den Bruch mit der Tradition provoziert, ja unausweichlich gemacht:

 „Wenn es ein überragendes Kriterium gibt, das mehr als alle andere eine weise Regierung von einer schwachen und unzulänglichen Administration unterscheidet, dann ist es dies: die rechte Zeit und die rechte Art und Weise zu erkennen, etwas aufzugeben, das nicht zu halten ist.“[21]

 Darin liegt der Kern der Katastrophe. Frankreich war reformbedürftig, aber weil diesem Staat die Mittel zu seiner Veränderung fehlten, war er nicht zu erhalten:

 „Sie haben schon falsch angefangen, weil Sie alles mißachtet haben was (zu) Ihnen gehörte! Respekt vor Ihren Vorvätern hätte Sie Respekt vor sich selbst gelehrt. Dann wäre Ihnen nicht eingefallen, die Franzosen bis 1789 als Volk von Gestern, als niedriggeborene, unterwürfige Wichte zu betrachten. (...) Wenn Sie weisen Vorbildern gefolgt wären, hätten Sie selbst der Welt ein Vorbild sein können...“[22]

 Das alles sind keine philosophischen Poesien ohne Realitätsbezug! Wie klarsichtig Burke erkannte, wozu die Mißachtung historischer Kontinuität der Institutionen führen würde, zeigt der nächste Absatz:

 „Bei der Schwäche eines Teils der Regierung, und bei dauernder Fluktuation eines anderen, werden die Offiziere dieser Armee eine Weile aufrührerisch bleiben und kleinere Meutereien entfachen, bis ein beliebter General, der die Kunst versteht, Soldaten zu fesseln, und der den Wahren Geist der Militärführung versteht, alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Diesem werden die Streitkräfte aus persönlicher Ergebenheit gehorchen. Es gibt in dieser Lage kein anderes Motiv für militärischen Gehorsam. Aber in dem Moment wo dieses geschieht, ist derjenige, der die Armee wirklich kommandiert, Euer Herr – der Herr des Königs (so wenig das bedeuten mag), der Herr der Nationalversammlung, der Herr Eurer ganzen Republik.“[23]

 Als Burke dies schrieb, trieb sich Napoleon Buonaparte noch als 22jähriger Leutnant in den Korsischen Bergen herum!

  

5. Über die Staatskunst und die Demokratie

 „(Der Staatsmann) kann sich nur im großen die zu verfolgende Richtung vorzeichnen; diese freilich muß man unverrückt im Auge behalten, aber man kennt die Straßen nicht genau, auf denen man zu seinem Ziele gelangt. Der Staatsmann gleicht dem Wanderer in einem Walde, der die Richtung seines Marsches kennt, aber nicht den Punkt, an dem er aus dem Forste heraustreten wird.“[24]

 Gerade viel Handreichungen bietet die konservative Philosophie dem Staatsmann nicht: Vorsicht bei jeder Veränderung, Beherztheit, wenn sie unausweichlich ist, Verantwortung vor Gott und den Menschen. Die Britischen Konservativen nehmen das, wie üblich, mit Humor:

 „Eine gesunde konservative Regierung? Das verstehe ich so: Schwarze Politiker und liberale Maßnahmen.“[25]

 Ruhe und die Bismarcksche „große, zu verfolgende Richtung“ – das erwarten die Konservativen vom Staatsmann. Und, wie vorhin erwähnt, daß er sie in Ruhe läßt. Adam Müller hätte wohl Helmut Kohl gewählt:

 "Ebenso soll die Staatskunst, die ich meine, den Staat im Fluge, im Leben, in der Bewegung behandeln, nicht bloß Gesetze hineinwerfen und hineinwürfeln und dann müßig zusehen, wie es gehen wird. Der Staatsmann soll die allgegenwärtige Seele der bürgerlichen Gesellschaft sein und kriegerisch und friedlich zugleich handeln. Je größer die Bewegung des Meeres ist, um so mehr wird die Ruhe des Steuermannes gerühmt. Kraft und Ruhe müssen zusammentreten, wenn ein Künstler werden soll.“[26]

 Spätestens seit der französischen Revolution war übrigens die fortschreitende Demokratisierung Bestandteil der konservativen Philosophie – freilich dergestalt, daß ihr nur soviel Raum gelassen wurde, wie unbedingt nötig. Wie sich zum Beispiel der Parlamentsabgeordnete Edmund Burke rhetorisch wand, als sein Gegenkandidat im Wahlkreis den Wählern Unterwerfung unter den Wählerwillen versprach, läßt heute noch schmunzeln:

 „Es ist unsere Pflicht, wenn wir das Begehren des Volkes vor uns sehen, ihm nachzugehen, aber nicht im Sinne von wörtlichem Gehorsam, der ja mit den Interessen des Volkes kollidieren könnte. Es wäre, mein Herr, sehr unehrenhaft für einen treuen Volksvertreter, wenn er aus einer unbeholfenen Artikulation des Volkswillens Kapital schlüge und die berechtigte Erwartung des Volke enttäuschte. ... Wir sollten unseren Wählern vorangehen, mit kindlicher Liebe, nicht mit sklavischer Angst. ... Für mich selbst muß ich sagen, ich hatte nie die Ehre, den Ideen des Volkes zu folgen. Die Wahrheit ist: Ich bin ihnen unterwegs begegnet, als ich die Volksinteressen nach meinen eigenen Ideen verfolgt habe.“[27]

 „Das Volk ist unser Herr. (Die Herren) müssen ihre Wünsche nur im Allgemeinen und Generellen äußern. Wir (Abgeordnete) sind die geschulten Spezialisten: wir sind die Arbeiter, die ihre Begehren in die perfekte Form bringen, und die das Werkzeug für den Zweck schaffen. Sie sind die Patienten, sie nennen die Symptome ihrer Beschwerden. Aber wir kennen den Krankheitsherd, und wie die Arznei gemäß den Regeln der Kunst verabreicht werden muß.“[28]

Rund fünfzig Jahre später konnte jeder, so wie wir heute, in die Zukunft blicken: nach Amerika! Damals wie heute war klar: Wollen oder Nichtwollen, was in der neuen Welt vor sich ging, würde auf die alte überschwappen, früher oder später. Ein großer französischer Konservativer wagte die Reise und begegnete Joseph Goebbels, so wie Burke 1790 Napoloeon begegnet war:

 „In den Vereinigten Staaten nimmt es die Majorität auf sich, den Individuen eine Menge Meinungen zu liefern, und entledigt sie so der Verpflichtung, sich eigene zu bilden. ... Sieht man näher hin, so wird man sogar feststellen, daß die Religion viel weniger als geoffenbarte Glaubenslehre herrscht als vielmehr die öffentliche Meinung.“ ...

 „Die geistige Herrschaft der größten Zahl ... wird stets sehr absolut sein, und welches auch die politischen Gesetze sein mögen, die die Menschen in demokratischen Jahrhunderten beherrschen, man kann voraussehen, daß der Glaube an die öffentliche Meinung eine Art Religion werden wird, deren Prophet die Majorität ist. ... Der Despotismus, der immer sehr gefährlich ist, ist also besonders in demokratischen Jahrhunderten zu fürchten.“[29]

 Zur selben Zeit hatten die Konservativen in England eine Wahlrechtserweiterung durchführen müssen und sahen sich in der entsetzlichen Lage, tatsächlich Wahlkreisarbeit leisten zu müssen, wie der Vorsitzende beschwörend sagte:

 „Es mag unangenehm sein und gewiß ungelegen, an den Wählerregistrierungen teilzunehmen, die jetzt jährlich im ganzen Lande stattfinden. Das mag alles ganz eklig sein; aber Sie können sich darauf verlassen, daß es besser ist, sich diesen Unannehmlichkeiten zu unterziehen, als zuzulassen, daß Ihr Wahlkreis das Opfer falscher Freunde wird, und daß Sie selbst unter die Hufe einer rücksichtslosen Demokratie geraten.“[30]

 Nebenbei: Alle Wahlrechtserweiterungen in England geschahen gegen den erbitterten Widerstand der Konservativen[31]. Aber alle brachten den Konservativen dann komfortable Parlamentsmehrheiten! Wegen des anhaltenden konservativen Widerstandes wurde das Wahlrecht immer nur zögerlich ausgeweitet, so daß nur Schichten der Bevölkerung in seinen Genuß kamen, die bereits „etwas zu verlieren hatten“[32] – und dann die Konservativen wählten. Es ging also im Grunde nie darum, die Wahlrechtserweiterung als solche zu verhindern – sondern darum, sicherzustellen, daß das Wahlrecht auf diejenigen beschränkt blieb, die ein Interesse am Erhalt der Verfassung haben:

 „Die Wahlberechtigung ist nicht ein Recht; nicht einmal eine Verantwortung – sie ist ein Privileg. Der Fehler der Wahlrechtsreform war, daß sie das Eigentum zur alleinigen Grundlage für politische Rechte machte. ... Das war ein Mittelklassen-Angriff, um die Macht dieser Klasse zu erweitern, mehr auf Kosten der Arbeiter als der Aristokratie. ... Was tat die Klasse mit der Macht? Sie emanzipierte die Neger, aber der Antrag zum Zehn-Stunden-Arbeitstag wurde nie gestellt. Die Interessen des Kapitals wurden, ohne zu erröten, vertreten, den Arbeitern wurde keine Erleichterung oder Kompensation verschafft. ...

Warum sollte die Arbeiterklasse bei diesen Personen seine Führer suchen? Der gemäße Führer des englischen Volkes ist die englische Nobilität (Gentlemen). Wenn sie nicht die Führer des Englischen Volkes sein können, sehe ich keinen Grund, warum sie die Nobilität bleiben sollen.“[33]

 Mit diesen Gedanken war die moderne konservative Partei geboren: 

„Vertraut dem Volke! – Lange habe ich versucht, dies zu meinem Motto zu machen; aber ich weiß, und will nicht verhehlen, daß es immer noch Einige in unserer Partei gibt, die diese Lektion noch zu lernen haben. ... Ja, vertraut dem Volke. Ihr, die Ihr danach strebt, und zurecht, die Wächter der Britischen Verfassung zu sein, vertraut dem Volke, und das Volk wird Euch vertrauen – und es wird Euch folgen und Euch zur Seite stehen bei der Verteidigung der Verfassung gegen welchen Feind auch immer“[34]

 „Es ist wahr, jedes Volk bedarf einer Staatsform und bedarf auch innerhalb dieser Staatsform einer gewissen Lenkung. Aber seien wir uns doch gerade in diesen Zeiten der Not, die hinter uns liegen, darüber klar, daß ohne das Mitgehen des Volkes, ohne daß das Volk mithandelt, ohne daß das Volk die Last auf sich nimmt, ohne daß das Volk sich müht, weiterzukommen, der Erfolg für jedes Parlament und für jede Regierung versagt bleibt – und darum bin ich stolz auf das deutsche Volk.“[35]

 Helmut Kohl hat Deutschland über Jahrzehnte hinweg modernen Konservatismus vorgelebt – gerade in seinen unentwegten, grandiosen Reformleistungen. Vielleicht nachhaltiger als seine gewiß großartigen politischen Erfolge wird wirken, daß er den Deutschen einen Grundsatz konkret nahebrachte, der seit jeher gute Politik beschreibt:

 „Wir verstehen das Konservative nicht als ein Hängen an dem, was gestern war, sondern als ein Leben aus dem, was immer gilt.“[36]

  

Alexander Achminow ist Verlagsgeschäftsführer in Leipzig. Er war Generalsekretär der DSU und ist Vorsitzender des Fachausschusses für Wirtschaft und Arbeit im Leipziger Stadtrat.

 



[1] Otto von Bismarck, 1892

[2] Quintin Hogg, 1947

[3] R.J. White, 1950

[4] R. J. White, 1950

[5] „Diffusion“ – eigentlich: „Zerstreuung“

[6] Quintin Hogg, 1947

[7] R. J. White, 1950

[8] Wilhelm von Humboldt, 1825

[9] Adam Heinrich Müller, 1809

[10] Adam Heinrich Müller, 1809

[11] Edmund Burke, 1790

[12] Edmund Burke, 1790

[13] Neureiche, von dem Vermerk „s(ine) nob(ilitas)“ – „ohne Adel“ - in Universitätsmatrikeln

[14] R. J. White, 1950

[15] Quintin Hogg, 1947

[16] R. J. White, 1950

[17] Lucius Cary 2nd Viscount of Falkland

[18] Kenneth Pickerton

[19] Edmund Burke, 1790

[20] Quintin Hogg, 1947

[21]  Edmund Burke, 1790

[22]  Edmund Burke, 1790

[23] Edmund Burke, 1790

[24] Otto von Bismarck, 1890

[25] Benjamin Disraeli 1840: „A sound Conservative Government? – I understand: Tory men and Whig measures“

[26] Adam Heinrich Müller, 1809

[27] Edmund Burke, 1788

[28] Edmund Burke, 1788

[29] Alexis de Tocqueville, 1835

[30] Robert Peel 1837

[31] Großbritannien war bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein keine Demokratie im Sinne von „one man, one vote“. Noch in der Zwischenkriegszeit entsandte z.B. aus den beiden Universitäten Oxford und Cambridge eine Handvoll Professoren eigene Parlamentsabgeordnete.

[32] Siehe oben. Ein interessanter Gedanke im Hinblick auf das Ausländerwahlrecht in Europa!

[33] Benjamin Disraeli, 1859

[34] Lord Randolph Churchill, 1884

[35] Konrad Adenauer, 1963

[36] Albrecht Erich Günther